In allen christlichen Kirchen begleiten Engel die Gläubigen durch das Kirchenjahr: Der Erzengel Gabriel verkündet Maria die Geburt, zu Weihnachten singen die Chöre der Engel den Lobpreis, und nach dem Matthäus-Evangelium wälzte ein Engel den Stein zur Seite, mit dem Jesus Grab verschlossen war, und verkündete die Auferstehung Christi. Maria ist in bildlichen Darstellungen der Krönung Mariens zur Himmelskönigin oft von musizierenden Engeln umgeben – singend und mit begleitenden Blas-, Streich- oder Zupfinstrumenten. Abbildungen von Engelschören sind oft auch auf Altarbildern zu finden, deren Flügeltüren gewöhnlich verschlossen und nur an hohen Feiertagen geöffnet wurden. Dann wurden der Himmel und die Himmelschöre für die Gemeinde sichtbar – der Himmel tat sich auf.
Wie aber mag diese Engelsmusik klingen? Wie war die Vorstellung davon im Mittelalter? Mit solchen Fragen beschäftigt sich der Beitrag des Ensembles Colusca zum diesjährigen Festivalthema – ausgehend von der Annahme, dass sich in der Polyphonie der Gesang der irdischen Zelebranten und Gemeinden mit den Engelschören der himmlischen Liturgie mische, derweil die Polyphonie in liturgischen Zusammenhängen zunächst den freudigen Genres und positiven Momenten vorbehalten war. Dabei erklingen neben Kompositionen von Guillaume Dufay und Walter Frye auch Beispiele aus dem Repertoire, das im Engelberg Codex 314, in der Berliner Liederhandschrift 190 und im Buxheimer Orgelbuch versammelt und überliefert worden ist. Und vielleicht lässt sich an diesem Abend ja ein wenig nachfühlen, wie eindrücklich, ja niederschmetternd die Mehrstimmigkeit gewirkt haben muss auf Menschen, die dereinst in ihrem Alltag ausschließlich einstimmige Musik hörten…
Die Vorliebe des Ensembles Colusca gilt dem »Grünspan des Mittelalters«: Wenn man ihn abreibt, kommen unerhörte Musikschätze ans Tageslicht. Dieser Patina rückt das Frauen-Trio mit Stimme, Flöte und Fidel zu Leibe und fördert Texte zutage, die so modern sind, dass sie mitunter fast dadaistisch anmuten. Colusca feierte sein Debüt im August 2020 bei »wunderhoeren«, den Tagen Alter Musik und Literatur in Worms. Als Spezialistinnen für die frühe europäische Musik verleihen die drei Musikerinnen ihren Programmen und Interpretationen Frische und Aktualität.
Als Sängerin und Drehleier-Spielerin gestaltet Cora Schmeiser Konzerte und Performances. Das Wechselspiel von Text, Stimmklang und Melodik des Mittelalters und der Gegenwart bilden die Grundlage ihrer Arbeit. Sie studierte in Frankfurt/Main Gesangs- und Instrumentalpädagogik und klassischen Gesang am Koninklijk Conservatorium Den Haag. Cora Schmeiser pflegt eine Vorliebe für Alte Musik und Musik des Mittelalters und spezialisierte sich als Mitglied des Ensembles VocaalLAB Nederland – heute Silbersee – auch auf Neue Musik. Mehrfach trat sie bei Festivals wie Wien Modern, November Music in den Niederlanden, wunderhören in Worms und Gegen den Strom an der Lahn auf. Auch in Musiktheaterproduktionen, beispielsweise mit Musik von John Cage und in Soloopern, ist sie zu erleben. In Programmen wie »Hier und dort«, »Vox Sanguinis – die Stimme des Blutes« und »dit en dat« mit dem Lunyala Trio lässt die Musikerin ihre Faszination für die Klänge des Mittelalters und der Moderne verschmelzen.
Die Block- und Traversflötistin Lucia Mense erhielt ihre musikalische Ausbildung an den Musikhochschulen in Köln, Amsterdam und Mailand bei Günther Höller, Marijke Miessen, Walter van Hauwe und Pedro Memelsdorff. In verschiedenen Zusammenhängen widmet sie sich sowohl dem Repertoire des Mittelalters, der Renaissance und des Barock als auch jenem der zeitgenössischen Musik. Ihre Interpretationen leben von der Begeisterung für die Klangideale, virtuosen Ansprüche und aufführungspraktischen Besonderheiten der verschiedenen Stile. Lucia Mense konzertiert weltweit als Solistin und in verschiedenen Ensembles. Neben zahlreichen Radio-Produktionen ist sie an CD-Einspielungen bei Labels wie Ars Musici, Mode Records, Touch Records, Raumklang und der Edition Wandelweiser beteiligt.
Susanne Ansorg studierte Germanistik, Musikwissenschaft und Musikpädagogik an der Universität Leipzig sowie mittelalterliche Streichinstrumente an der Schola Cantorum Basiliensis bei Randall Cook. Sie konzertiert in ganz Europa, in Nord- und Südamerika, Japan und Australien mit verschiedenen Ensembles für mittelalterliche Musik, darunter Sequentia, Sarband, The Harp Consort, Boston Camerata, Belladonna, La Ziriola, Ars Choralis Coeln und Ala Aurea. Außerdem widmet sie sich Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der mittelalterlichen Instrumentenkunde und der Aufführungspraxis. Susanne Ansorg nimmt verschiedene Lehraufträge wahr und gibt Workshops zur Musik des Mittelalters. Ihr obliegen die künstlerische Leitung und Koordination des Internationalen Festivals mittelalterlicher Musik montalbâne.
Der Harfenist Vincent Kibildis ist auf das Spiel historischer Harfen des Mittelalters, der Renaissance und des Barock spezialisiert. Seine musikalische Ausbildung begann er als Sechsjähriger an der keltischen Harfe. Er beschäftigte sich zunächst mit traditioneller schottischer und irischer Musik; die Suche nach neuen Ausdrucksweisen führte ihn dann jedoch zur Alten Musik, die er an der Schola Cantorum Basiliensis und der Escuela Superior de Música de Cataluña studierte. Seine Studien an diesen Institutionen schloss er in den Fächern Aufführungspraxis der Musik des Mittelalters, der Renaissance und des Barock ab.
Seit seinen ersten Auseinandersetzungen mit der Alten Musik interessiert sich Vincent Kibildis für historische Notationsformen und das Spannungsfeld zwischen dem Notierten und dem Ungeschriebenen, zwischen oralen und improvisatorischen Praktiken. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Ensembles erarbeitet er regelmäßig Transkriptionen und Editionen alter Werke. Er erforscht außerdem die Rolle der einfach besaiteten – diatonischen oder semidiatonischen – Harfen im 16. Jahrhundert und darüber hinaus. Als Harfenist arbeitet er mit diversen Ensembles in ganz Europa zusammen.